Wir waren Täter & Opfer: „1945er“-Symposium zu Kriegsende & Neubeginn
Was passiert mit einer Gesellschaft nach dem Krieg? Mit ihrem juristischen und gesellschaftspolitischen Blick auf die Entnazifizierung in Österreich eröffnete Claudia Kuretsidis-Haider vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands das „Übergänge“-Symposium anlässlich von 80 Jahre Kriegsende und Neubeginn. Eine Veranstaltung, so Ko-Organisator Florian Traussnig, die angesichts der Krise der Demokratie kein schulterklopfendes Ritual, sondern brandaktuell ist. Die „transitional justice“ zwischen Diktatur und Demokratie als „Vergangenheitsbewältigung durch Recht“ wollte dem „Vergessen entgegenwirken, Verantwortlichkeit festlegen und Opfer anerkennen“, so die Historikerin in ihrem instruktiven Vortrag, der grundlegende Fakten und Zahlen zur NS-Verstrickung unserer Gesellschaft lieferte. Nach einer durchaus intensiven ersten Phase mit rund 137.000 eingeleiteten „Volksgerichts“-Verfahren und 13.600 Schuldsprüchen ebbte die Entnazifizierung Mitte der 1950er Jahre ab – „das Verdrängen oder Vergessen kann auch ein Instrument des Übergangs sein“ sein, so Kuretsidis-Haider, die aber ergänzte: „Wir schulden den Opfern Rechtssicherheit.“
Der aus New Orleans angereiste Doyen der Marshall-Plan-Forschung, Günter Bischof, sprach in seinem Vortrag „US-amerikanisches 'Nation Building' und Wiederaufbau nach dem Krieg“ über die wirtschaftlichen Grundlagen, aber auch das propagandistische „Grand Narrative“ des Marshall Plan, von dessen Hilfsgeldern eine Milliarde in Österreich landete und der unser Land fest in der westlichen Wirtschaftssphäre verankerte. Die Kleine Zeitung zitierte Bischof tags darauf: „Das war überlebenswichtig, ohne diese Unterstützung würden Österreich und die Steiermark heute weit schlechter dastehen“. Die auch mit Marshall-Plan-Geldern errichteten Skilifte und deren ökologische Folgewirkungen werden heute von jungen Forschenden anders und kritischer untersucht, so der austro-amerikanische Historiker, der gleichwohl darauf hinwies, dass etwa die von Exilösterreicher Joseph Buttinger und seiner Frau nach 1945 privat gespendeten CARE-Pakete in unserem kriegs- und hungergebeutelten Land Menschenleben gerettet haben. „Friede ist nur, wenn es den Menschen gut geht“, so Bischof.
Unter dem Titel „Demokratie des Missmuts. Vom Niedergang des Nachkriegsoptimismus“ arbeitete Philosoph Peter Strasser heraus, wie die nach 1945 vorhandene „Österreicheuphorie“ mit ihren wirtschaftlich abgesicherten Prinzipien „Familie, ein maßvolles Wohlleben, Freiheit und Sicherheit im Berufsfeld“ verflogen ist und nunmehr von illiberalen und rechtsautoritären Kräften unter Druck gesetzt wird. Zum Wesen menschlicher Natur, so Strasser, gehört einerseits die anthropologische Einsicht, dass der Mensch des Menschen Wolf ist; andererseits kann die „grund- und menschenrechtlich ausgelegte, liberale Demokratie“ als „schlechteste“ Staatsform – mit Ausnahme aller anderen, so Winston Churchill –, mithelfen, diese Natur zu zivilisieren. Strasser nannte keinen einfachen Ausweg aus der gegenwärtigen Polit- und Stimmungsmisere, sah aber in „Wohlstandswahrung, Verringerung sozialer Ungleichheit und jenen christlichen Werten der Caritas, ohne die eine humane Gemeinschaft nicht denkbar ist“ den bestmöglichen Pfad, um „unter demokratischem Vorzeichen dem Sturm zu begegnen.“
Helmut Konrad, Historiker und ehemaliger Rektor der Uni Graz, nahm die Vorbemerkungen zur österreichischen „Unabhängigkeitserklärung“ in der am 28. April 1945 – also noch vor dem militärischen Ende des NS-Reichs – erschienen, lagerübergreifenden Zeitung Neues Österreich zum Anlass, um die Suche nach dem „anderen Österreich“ kritisch zu reflektieren. In dieser von Karl Renner und weiteren Führungsfiguren der Nachkriegsparteien verfassten Präambel steht etwa, dass der Nationalsozialismus „das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat.“ Mit derartigen – aus heutiger Sicht den österreichischen „Opfermythos“ stärkenden – Aussagen wollte man „nationale Identitäten für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ bzw. nach dem Krieg für den Wiederaufbau nutzen, so Konrad. Diese persönliche wie kollektiv durchaus sinnstiftende „Suche nach dem ‚anderen Österreich‘“ sei nicht nur besatzungspolitisch hilfreich gewesen, sondern habe später auch junge Zeitgeschichte-Studierende und Historiker wie ihn erfasst. Letztlich gelte es ein komplexeres Bild von (gleichzeitiger) Täter- und Opferschaft sowie von nationalen Mythen zu zeichnen.
Florian Traussnig schilderte im zweiten „Panel“, wie sich zwei austro-amerikanische US-Soldaten in der bereits 1944 befreiten deutschen Stadt Aachen hinter den Kulissen ein politisches „Match“ um die Nachkriegsordnung lieferten – und dabei einen handfesten, aber demokratisch lehrreichen Skandal verursachten. So achtete die Armee nach Kritik an der rechtskonservativ-kirchennahen Stadtregierung Aachens auf eine ausgewogenere Ämterbesetzung im befreiten Deutschland.
„Der einzige Russe, der vorbeikommt, ist einer, der Eier wollte“ – auf die 75 existenziell dichten Tage des „Roten Sterns über Graz“ blickte die Historikerin Barbara Stelzl-Marx und zitierte dazu aus regionalen Tagebüchern wie jenem des Grazer Geschäftsmanns Hans Hermann Gießauf. Neben der klaren Benennung sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Plünderungen war Stelzl-Marx auch ein differenziertes „Russenbild“ wichtig: Sowjetische Soldaten seien in dieser Zeit „sozialer, infrastruktureller, politischer, kultureller sowie persönlicher Herausforderungen“, so die Professorin an der Uni Graz und Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, auch sehr kinderfreundlich und großzügig gewesen.
Wie überraschend offen die katholische Kirche, die 1933/34 den Weg in die Diktatur des „Austrofaschismus“ mit geebnet hatte, mit diesem schwierigen Erbe umgeht, schilderte Werner Anzenberger. Nach einer persönlich gefärbten Skizze zur Genese des von der Kirche vielfach unterstützten und teils kultisch überhöhten Dollfuß-Schuschnigg-Regimes blickte der Zeithistoriker auf jüngere politische Entwicklungen: Bischof Wilhelm Krautwaschl habe sich für die „enge Verflechtung von Kirche und Parteipolitik“ entschuldigt und die Kirche setze heute auf Dialog, so Anzenberger.
Ko-Organisator und -Moderator Martin Hochegger von der Katholischen Arbeitnehmer:innenbewegung Steiermark wies zum Abschluss der Vorträge auf die Komplexität und Vielschichtigkeit unserer Zeitgeschichte hin und forderte Wachsamkeit gegenüber „klugen Rechten“, die die Suche nach Identität für antidemokratische Zwecke missbrauchten.
Der das interdisziplinäre Symposium beschließende Talk „Wieviel Verdrängung braucht eine Täter- und Täterinnengesellschaft?“ wurde von KULTUM-Leiter Johannes Rauchenberger mit Gedanken zur Gegenwartsbewältigung durch Kunst und der pädagogischen Leiterin des Bildungsforums bei den Minoriten, Kathrin Karloff, mit einem Verweis auf „den letzten Europäer“ bei Walter Benjamin eröffnet. Moderator und Journalist Christian Weniger fragte selbstkritisch: „Ist ein Symposium genug“ zur Aufarbeitung unserer Geschichte seit 1945? Ebenso (produktiv-)provokant übte Psychiater Michael Lehofer Kritik am „ritualisierenden Erinnern“ sowie an der „linken Gedächtnispolitik“ und forderte ein Zulassen von Schuldgefühlen, das erst Berührung und Bindung an die Opfer ermögliche. Der Soziologe Manfred Prisching resümierte: „Wir waren beides – Täter und Opfer. Die Schönheiten und Grauslichkeiten unserer Geschichte gehören in eine reife Persönlichkeit integriert.“
Florian Traussnig
Das Symposium wurde vom Bildungsforum bei den Minoriten organisiert und in Kooperation mit Katholische Arbeitnehmer:innenbewegung Steiermark, KULTUM, Katholische Aktion Steiermark, Katholische Hochschulgemeinde Graz, Bischöfliches Amt für Schule und Bildung, Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, Generation plus - Grüne Seniorinnen sowie Zukunft braucht Erinnerung durchgeführt. Wir bedanken uns beimAmt der Bürgermeisterin der Stadt Graz für die Kulinarik sehr herzlich.